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Vorspiel auf dem 18. Preetzer Papiertheatertr

beobachtet von Willers Armtrup und Horst Römer (Morgonkulan) / aus PapierTheater 31/05

achtzehn jahre preetzer papiertheatertreffen – und immer noch, immer wieder ist es anregend, aufregend, manchmal einfach wunderbar! Goethes Faust, der in diesem Jahre neben vielem anderen auf dem Spielplan stand, animiert mich, seinen Direktor aus dem »Vorspiel auf dem Theater« die Einleitung zu diesen Zeilen sprechen zu lassen:

Besonders aber laßt genug geschehn!
Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn…
Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus.

wie immer konnte auch ich mir aus der FÜLLE der Darbietungen nur »was« aussuchen – und wie immer bin auch ich trotz einiger kritischer Anmerkungen nicht nur zufrieden, sondern glücklich aus dem Haus gegangen. Lassen Sie mich gleich mit einer solchen Kritik beginnen – Grausamkeiten soll man ja wie nach einer Wahl möglichst rasch begehen, um dann das Schöne um so mehr schätzen zu können: Nach meinem Eindruck waren die Aufführungen, die ich sehen konnte, diesmal teilweise etwas textlastig, obwohl man ja – siehe oben; und das gilt fürs Papiertheater besonders – »zu schauen« kommt und »am liebsten sehn« will.

Das gilt besonders für die eine oder andere Aufführung in englischer Sprache, bei der ich mir den vorherigen Besuch eines sprachlichen Crash-Kurses gewünscht hätte, um der Handlung wirklich folgen zu können. Hilfreich ist es in einem solchen Falle, dem Zuschauer eine ausführliche Inhaltsangabe an die Hand zu geben.

 

Trumpeter, Sound!

Daran fehlte es leider bei Peter Baldwin’s ansonsten überaus gelungener Aufführung von Trumpeter, Sound!, eines während des Krimkrieges spielenden Stückes, in dem er zwei Dramen von William Webb miteinander kombiniert hatte, nämlich The Battle of Alma und The Battles of Balaklava & Inkerman.

Ich habe zu Hause meine Geschichtsbücher zu Rate gezogen und dabei gelernt, daß England und weitere Verbündete in den Jahren 1855–1856 diesen Krieg gegen Rußland führten, um dessen Expansionsbestrebungen auf dem Balkan einzudämmen. Die Siege der Verbündeten in den genannten Schlachten wurden seinerzeit offensichtlich alsbald patriotisch auf dem »großen« Theater vermarktet, und Webb brachte beide Stücke mit gutem Gespür für den geschäftlichen Erfolg zeitnah 1855 und 1856 auch für das Papiertheater heraus – ein interessanter Hinweis auf die Spiegelung der Theatergeschichte im »Kindertheater« (Garde).

In einer Rahmenhandlung schildert ein Zeitungsreporter – schon damals gab es also die »embedded journalists« – den heroischen Verlauf der Kämpfe und kontrastiert wirkungsvoll den Heldenmut der Sieger mit der Ignoranz der russischen Führung, deren Oberbefehlshaber Prinz Menschikoff lieber Feste feiert als kämpft.

Peter Baldwin hatte für seine mit den (selbst kolorierten) Webb’schen Dekorationen und Figurinen gespielte Version liebevoll die originale Bühne nachgebaut, nämlich Astley’s Amphitheatre in London mit einer vor dem Vorhang befindlichen, offenen Vorbühne in der Art einer Zirkusarena, in der üblicherweise auch Shows mit Tieren gegeben wurden. Das ermöglichte es ihm, Geschehnisse im kleineren Rahmen auf der eigentlichen Bühne spielen zu lassen, während die turbulenten Schlachten und andere Großereignisse auf der Vorbühne stattfanden.

Baldwin wanderte dabei locker vor dieser Vorbühne hin und her und schob die kämpfenden Heere mit Hurrah gegeneinander – ich habe diese ungezwungene Darstellung bei einem englischen Spieler zum ersten Mal gesehen und bin sehr angetan davon. Wie immer überzeugend war natürlich die äußerst differenzierte Art, in der Peter Baldwin alle Rollen live sprach.

Bluebeard

Ebenfalls mit Dekorationen und Figurinen von H. G. Webb präsentierte sich das Paperplays Puppet Theatre mit Bluebeard – Blaubart oder die weibliche Neugier –, und hier verteilte Joe Gladwin zu Beginn eine detaillierte Übersicht über das Geschehen; das machte das Verstehen leicht, zumal man die Geschichte natürlich in mehreren Versionen kennt und außerdem Gladwin’s hervorragende Sprechkultur die vielen verschiedenen Personen überaus plastisch hervortreten ließ.

Schon der Beginn war ein kleines Schauspiel für sich: Da Webb die Geschichte im Orient spielen läßt, verkleideten sich Gladwin und seine Partnerin Helen Porter mit Mantel, Fez und Schleier als arabische Märchenerzähler; Helen Porter, die die ganze Aufführung, auf mehreren Instrumenten improvisierend, äußerst stimmig begleitete, stimmte mit einem geheimnisvollen Singsang auf das folgende Geschehen ein, und der Vorhang erhob sich zur dramatischen Schilderung des Frauenverführers und -mörders Blaubart, der am Ende seinerseits getötet wird, während Fatima sich endlich mit ihrem heimlich geliebten Selim vereinigen kann.

Joe Gladwin hatte alle von Webb »plain« gedruckten Bögen vergrößert, selbst sehr gelungen koloriert und durchgehend sehr eindrucksvolle Szenen geschaffen – für mich am schönsten war der Einzug der Braut Fatima in Blaubarts Schloß mit Musikanten, Elefanten und sonstigem großen Gefolge. Gladwin führte seine Figuren überaus lebendig und steigerte diese Lebendigkeit noch dadurch, daß er selbst wiederholt als zusätzliche lebende Figurine mitwirkte. Ein wirkliches Highlight!

Wilhelm Tell

Ein solches Highlight durfte man natürlich auch von Robert Poulters neun ausgewählten Szenen aus Schillers Wilhelm Tell erwarten – und wurde nicht enttäuscht. Poulter spielte das Drama in einer englischen und einer deutschen Version, letztere gesprochen von Peter Schauerte-Lüke.

Ich sah die englische, die zwar einerseits auch etwas textlastig, andererseits aber gut nachzuvollziehen war, weil den Zuschauern eine Übersicht über die Szenenfolge an die Hand gegeben war und man zudem »seinen« Tell dank der sonst heutzutage manchmal belächelten Allgemeinbildung doch noch ganz gut im Kopf hat. Wie immer hatte Robert Poulter alle Figuren in den verschiedensten Positionen selbst äußerst lebendig gezeichnet und koloriert – das macht ihm niemand nach!

Wegen der längeren Textpassagen führte er diese Figuren auch ruhiger als sonst von ihm gewohnt; ich empfand die etwas gebremste Rasanz aber keineswegs als Nachteil. Die Dekorationen, besonders bei allen im Gebirge spielenden Szenen, waren überaus eindrucksvoll gelungen und wurden in ihrer Wirkung noch gesteigert durch vielfach wunderbare Lichteffekte – die Rütli-Szene und der Sturm auf dem See hätten nicht schöner sein können! Einzig die Apfelschuß-Szene war mir ein wenig zu »wuselig« geraten und wegen der Vielzahl der kleinen Figuren von den hinteren Sitzplätzen nur bedingt zu übersehen. Dennoch: Ein herrliches Erlebnis!

Tango for Tarzan / The Widow

Bleiben wir noch ein bißchen bei den Aufführungen in englischer Sprache. Aus den USA kam das Little Blue Moon Theatre von Michael und Valerie Nelson und stellte mit Tango for Tarzan und The Widow – mit einer Inhaltsübersicht! – zwei Stücke »nur für Erwachsene« vor – auch sie wurden zu einem einhellig bejubelten Hochgenuß!

Die beiden Akteure, die seit 25 Jahren als Puppenspieler auftreten, beschäftigen sich erst seit kurzem auch mit dem Papiertheater und präsentierten mit von Michael Nelson selbst gezeichneten, sehr ansprechenden Dekorationen und Figurinen zuerst die Geschichte einer jungen Photographin, die in einem Naturhistorischen Museum in der Afrika-Abteilung die Nachbildung des fast ausgestorbenen Rhinozeros’ besichtigt, fast ausgerottet deshalb, weil sein Horn als Aphrodisiakum begehrt ist.

Sie öffnet zufällig eine geheimnisvolle Tür – und alsbald verschiebt sich die Darstellungsebene: An die Stelle der nüchternen Realität tritt ein Wunschtraum der jungen Frau, die sich auf einmal von Wilderern gekidnapt wähnt, von ihnen entkleidet und (sehr dezent) sexuell bedrängt wird.

Als Retter in der – ja eher erwünschten – »Not« erscheint Tarzan, der sich an einer Liane zu ihr hinabschwingt, die Wilderer überwältigt und sie befreit – alsbald beginnt ein neues, diesmal wirklich freiwilliges Liebesabenteuer, bei dem die junge Frau teilweise geradezu akrobatisch auf und mit einem der riesigen Rhinozerosse agiert. Das alles ist zwar direkt, aber niemals pornographisch, sondern äußerst witzig dargestellt – Erotik vom Feinsten auf dem Papiertheater.

Gleiches gilt für die anschließende, von Valerie Nelson sehr humorvoll singend vorgetragene Ballade über eine einsame Witwe, deren Hauptbeschäftigung es ist, reihenweise Männer zu »vernaschen«. Selbst der Teufel, dem sie für eine gelungene Nacht mit ihm ihre Seele verspricht, muß schließlich vor ihrer Begierde kapitulieren und erklärt resigniert, nun verstehe er, warum ihr Mann das Zeitliche gesegnet habe. Wiederum Erotik pur – und wiederum keine Pornographie, sondern ironische Verfremdung.

Parzifal der Waliser

Zum Schluß dieser »Abteilung« nun noch etwas beinahe Englisches – denn das etwas skurrile »Franzenglisch« von Eric Poirier mit seinem Théâtre de l’Egrégore habe nicht nur ich schon im vorigen Jahr belächelt. Diesmal präsentierte er Parzifal der Waliser, die aufregende Geschichte des behüteten Muttersöhnchens, der unbedingt Ritter werden will und es nach mancherlei Abenteuern auch tatsächlich wird.

Wie im Vorjahr vermeidet Poirier jede illusionistische Darstellung, beginnt sein Spiel an einem Stehpult, läßt dort Mutter und Sohn in einem witzigen Dialog über die Gefahren der großen Welt disputieren und wechselt erst dann zur eigentlichen Bühne.

Auch diese fällt aus dem üblichen Rahmen, denn sie besteht – ebenso wie die Figurinen und die wenigen Dekorationen überzeugend gestaltet von seiner Partnerin Christiane Comtat – aus einem aufklappbaren Retabel mit zwei Mittelfenstern. Hier nun versprüht Poirier ein Feuerwerk von Einfällen: Kämpfe zwischen Rittern wechseln ab mit solchen mit Teufeln, König Artus’ Tafelrunde spielt mit, und es kommt schließlich, da Parzifal allmählich »mannhaft« geworden ist, sogar zu einer erotischen Begegnung mit der schönen Blanche Fleur.

Dabei springt Poirier ständig zwischen dem Agieren mit den Flachfiguren und eigenem Mitspiel hin und her, geht streckenweise zum Schattenspiel über und gestaltet die Aufführung so spannend und abwechslungsreich, daß man die weitgehend fehlenden Kulissen überhaupt nicht vermißt.

Und wenn ich auch den oft extemporierten Text oft nicht wirklich verstehen konnte – eine Inhaltsangabe wäre hier wirklich angebracht gewesen –, hätte ich noch endlos weiter zuhören und zuschauen mögen. Hier agierte ein Komödiant von besonderem Kaliber.

Regina

Den nächsten Erzkomödianten will ich gleich folgen lassen, nämlich Peter Schauerte-Lüke von Don Giovanni, Käthchen & Co. Er präsentierte den ersten Akt von Regina, der einzigen im Arbeitermilieu spielenden und heute fast vergessenen Oper Albert Lortzings: Sie beginnt mit dem Streik der Arbeiter eines Fabrikbesitzers, der durch das beherzte Auftreten seines Sekretärs Richard beendet werden kann.

Als jener ihm zum Dank seine Tochter Regina zu Frau geben will, stößt das auf den erbitterten Widerstand des Vorarbeiters Stefan, der diese gute Partie ebenfalls für sich haben möchte und sich mit einer Bande von Rebellen verbündet, die alsdann die Fabrik erstürmen und niederbrennen und Regina entführen. Wie diese dann im 2. und 3. Akt befreit und ihrem Richard wieder zugeführt wird, will Schauerte-Lüke demnächst beim Papiertheater-Festival in Schloß Burg zeigen.

Auch diese Vorstellung begann ungewöhnlich: Während der Ouvertüre saß der Spieler neben der Bühne und schnippelte an einer Papierfigur herum, bis Lortzing selbst als (Papier)figur auftrat. Es entspann sich – ein wirklich gelungener Einfall – ein amüsanter Dialog zwischen einem Tonband (Lortzing) und dem lebenden Schauerte-Lüke über die Entstehung der Oper, bis diese schließlich mit der Massenszene der streikenden Arbeiter beginnen konnte.

Das war hervorragend gemacht, überzeugte auch sprachlich und setzte sich dann fort mit den erregten Auseinandersetzungen über die zweifach begehrte Braut, der Verschwörung Stefans mit den Rebellen und der abschließenden Zerstörung der Fabrik mit lodernden Flammen und auf die Bühne stürzenden Schornsteinen – kurz: ein großes Spektakel.

Schauerte-Lüke brachte sein bereits mehrfach gerühmtes Talent als Sänger ein, sang mehrere Arien (vielleicht hätte es eine weniger sein können) zur Klavierbegleitung selbst, wechselte teilweise zum Melodram über und sprach im übrigen sämtliche Rollen einschließlich der Frauenstimme live. Ich habe mich ausgesprochen amüsiert.

Faust

Mit Szenen aus Goethes Faust debütierte in diesem Jahr Olaf Christensen mit seinem Hamburger Altpapier. Er benutzte als Soundtrack die Düsseldorfer Aufführung mit Gustaf Gründgens, hatte dazu Dekorationen von Schreiber und Jacobsen geschickt miteinander kombiniert und sie durchweg sehr gut ausgeleuchtet.

Auch die ruhige Figurenführung überzeugte mich. Ich brauche die bekannte Handlung nicht zu erzählen und beschränke mich auf die Nennung der einzelnen Szenen: Studierzimmer, Hexenküche (mit gekonnt eingesetztem Rauch des Feuers), Begegnung Fausts mit Gretchen auf der Straße, Gretchens Zimmer, Garten mit Gespräch über Fausts Religion, Dialog Faust – Mephisto in einer Höhle, Kerker.

Die schöne Gründgens-Aufnahme verführt natürlich dazu, den Text möglichst lange stehen zu lassen – doch wurde dadurch für mein Empfinden auch diese Aufführung etwas zu textlastig, und der Rezensent möchte, anknüpfend an die einleitenden Worte des Theaterdirektors, dem Spieler zurufen: »Action!«

Wenn ein Rat erlaubt ist, so der, einige reine Wortszenen (besonders das Religionsgespräch) zu kürzen und das Stück um handlungsreichere Szenen – z. B. den Hexensabbat auf dem Blocksberg oder Auerbachs Keller, vielleicht auch (obwohl sicher schwierig zu gestalten) die Verwandlung des Pudels – zu erweitern. Aber trotz allem: Ein guter Einstand!

Montezumas Maler

Horst Römer von Römers Privattheater hatte diesmal die Geschichte der Eroberung des Aztekenreiches durch die Spanier unter Hernán Cortés für sein Stück ausgewählt und sie in Montezumas Maler mit dem persönlichen Schicksal eines Künstlers verknüpft, der am Hof des Aztekenkaisers als Schreiber und Maler die Geschichte des Reiches und aktuelle Ereignisse aufzeichnete sowie auch Wahrsagekalender erstellte, mit denen für den Herrscher die Zukunft vorhergesagt werden sollte.

Römer griff, wie schon bei seinen früheren Stücken, auf alte Texte und Bilder zurück und schuf aus ihnen im Wechsel lebhafte, bewegte Szenen und ruhige Bildwände von eher symbolhaftem Charakter. Da wurden – teilweise im Text mit sehr aktuellen politischen Anspielungen – die Ankunft der Spanier in Mexiko geschildert, die Ratsversammlung der Azteken mit ihrem ironisch wiedergegebenen Streit über die richtige Reaktion auf die Fremden, ein Putschversuch gegen Montezuma, die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Sieg der Spanier und die anschließende Tätigkeit des Malers für spanische Mönche.

Beeindruckend waren besonders das Eröffnungsbild mit der Hauptstadt der Azteken, die nächtliche Verschwörungsszene der Putschisten vor Montezumas Palast, die Gründung der neuen Hauptstadt durch die Spanier, bei der wie ein Fanal für die zukünftige Entwicklung bereits eine Coca-Cola-Reklame am Himmel erscheint, und die Umwandlung des Azteken-Palastes in eine Kathedrale, kulturhistorisch ein ähnliches Verbrechen wie die Verschandelung der Mezquita in Cordoba. Alle diese Szenen waren nicht nur hervorragend gezeichnet und koloriert, sondern zudem wunderbar ausgeleuchtet. Auch die sprachliche Gestaltung war gegenüber dem Vorjahr deutlich verbessert.

Dr. Mackuse: Zu neuen Ufern

Lassen Sie mich schließen mit den beiden Vorstellungen, die mich, obwohl die Entscheidung wirklich schwer fällt, in diesem Jahr am stärksten bewegt haben. Da war zuerst Dr. Mackuse: Zu neuen Ufern, gezeichnet und vertont von Walter Koschwitz und gespielt von ihm und Megi Koschwitz mit ihrem Papiertheater der urbanen Kriminalität.

Der nunmehr dritte Teil des wohl als Tetralogie angelegten Mackuse-Zyklus’ (Thomas Mann und Richard Wagner lassen grüßen) berichtet über die Verbrechen des Schurken in der Nachkriegszeit und schildert in einer Revue von zwölf einzelnen Szenen die Entwicklung der Bundesrepublik – für deren negative Aspekte eben Dr. Mackuse steht – von 1945 bis in die Gegenwart.

Da wird, um nur einiges herauszugreifen, vom Schwarzmarkt berichtet, vom Kalten Krieg, dem Mauerbau, der »Wende« und von den Folgen der Globalisierung – und mittendrin immer der Verbrecher, der seinen Vorteil aus allen diesen Ereignissen zu ziehen weiß. Koschwitz erzählt keine zusammenhängende Geschichte, sondern stellt wie mit einem Punktstrahler Geschichte dar.

Seine große Stärke besteht darin, Momentaufnahmen, oft offensichtlich Photographien, so zu verfremden und damit zu überhöhen, daß sie eine ungemein dichte Atmosphäre schaffen – für einzelne seiner ersten Bilder wäre der Begriff der »Ästhetik der Ruinen« sicherlich nicht fehl am Platze. Diese atmosphärische Wirkung wird noch verstärkt durch raffinierte Lichteffekte, die mehrfach geradezu Beklemmungen hervorrufen.

Dabei schafft er meist keine räumliche Illusion, sondern arbeitet eher zweidimensional ohne zusätzliche Seitenkulissen – bis hin zu imitierten (weil in Wahrheit gezeichneten) Holzschnitten, die die ganze Bühnenöffnung beherrschen und fast wie ein expressionistisches Kaleidoskop wirken.

Walter Koschwitz nennt sein Stück ein Musical, läßt deshalb nicht nur den allgegenwärtigen Mackuse, sondern z. B. auch schemenhaft Tänzergruppen auftreten und hatte zu seinem Stück aus selbst gesungenen oder gesprochenen, oft sehr bissigen Texten, alten Schlagern und selbst komponierter Musik einen Soundtrack geschaffen, an dem sich die Geister ein wenig schieden: Es gab Stimmen, die eine eingeschränkte Textverständlichkeit kritisierten, während die elektronische Verfremdung des Tons nach meinem Empfinden den Eindruck des Zerrissenen, Unheimlichen eher verstärkte.

Für mich ist Walter Koschwitz einer der eigenständigsten, eigenwilligsten Papiertheaterspieler, die ich kenne, und in seiner Art sicherlich singulär.

Letzte Lieder

Gleiches läßt sich von Frits Grimmelikhuizen sagen, der nach langer Pause seinen legendären Variationen über Kandinsky von 1995 nun Letzte Lieder folgen lässt. Er nennt sein Stück eine »Symphonie« ohne Worte, eine »Komposition von Bildern und Klängen über Vergänglichkeit, Verlangen, Erinnerungen, Liebe, Tod und Dinge, die vorübergehen«, und tatsächlich finden sich alle diese Regungen in den vier Teilen der Symphonie auf anrührende Weise wieder.

Bild und Ton bilden eine untrennbare Einheit, beziehen sich aufeinander und variieren immer neu die Eingangsworte, daß der Mensch sterben werde, drücken diesen Abschied aus mit allen damit verbundenen Erinnerungen an Vergangenes.

Der relativ kurze erste Teil enthält Reminiszenzen an Kandinsky mit schönem Lichtspiel und ruhig bewegten geometrischen Figuren und Schlangen- oder Wellenformen, für mich Symbole für den Fluß des Lebens. Der zweite Teil läßt dann geheimnisvolle, seltsam traurig wirkende Figurinen erscheinen, einen gebeugten Mann, eine Gruppe von Flüchtenden – alles das ist niemals eindeutig gezeigt, sondern weckt Assoziationen, macht nachdenklich, rührt beim Betrachter Emotionen auf.

Den stärksten Eindruck hinterlassen die beiden letzten Teile: Der dritte basiert musikalisch auf der letzten der vier Strauss’schen Abschiedskompositionen (»Im Abendrot«) und dem »Lacrimosa« aus Verdis Requiem, und zu diesen bewegenden Klängen ziehen immer größere Gruppen immer stärker gebeugter Menschen durch das Bild, treten unter raffinierten Lichteffekten schwarze Trauergestalten vor fahlem Licht auf – großartig! (Einziger Kritikpunkt: Die Eingangssequenz war etwas zu dunkel).

Der vierte Teil schließlich gilt dem endgültigen Abschied. Begleitet von der anrührenden Klage der Dido aus Purcell’s Dido und Aeneas erscheinen die Figuren, gestaltet aus durchsichtiger Folie, nur noch als Schemen auf, gesichtslos, fast schon vergangen – schöner und eindrucksvoller kann man das mit den Mitteln des Papiertheaters nicht gestalten. Mir fehlt die Kompetenz, den aus Musikzitaten, eigener Komposition, Alltagsgeräuschen und Gesprächsfetzen bestehenden Soundtrack (warum gibt es dafür im Deutschen kein besseres Wort?) wirklich zu beurteilen, und kann nur sagen, daß er mich während der ganzen Aufführung in den Bann gezogen hat.

Alles in allem: Das Preetzer Papiertheatertreffen muß weiterleben – es gibt nichts Interessanteres auf diesem Gebiet!
Willers Armtrup

 

Morgonkulan

Aus Schweden war Marianne Castegren mit ihrem Papagena Musik och Teater gekommen und hatte ihr wunderschönes Stück Morgonkulan mitgebracht. Bevor es losging, wollte sie von den Zuschauern ein deutsches Kinderlied kennen lernen, dann hat sie uns ein schwedisches vorgesungen und in dieser gelösten, freundlichen Atmosphäre ging es weiter. Eine einfache Geschichte: Papa, Mama und ein kleiner Junge, den seine Eltern »Kugel« nennen.

Kugel möchte abends nicht zu Bett gehen, und schlecht gelaunt schleudert er seinen Eltern die Bemerkung entgegen, dass es einen Menschchen auf er Welt gebe, der viel freundlicher sei und den er viele lieber habe als alle anderen Menschen, auch als Papa und Mama.

Eine solche Aussage beschäftigt natürlich alle Familienmitglieder, und so folgen drei Träume: Mama sucht bei den Vögeln, Papa bei den Fischen nach idealen Eltern, die am freundlichsten sind und die man am liebsten auf der Welt hat, finden sie aber nicht. Kugel hingegen trifft ein kleines Mädchen im Traum und – am anderen Morgen ist sie in Kugels Zimmer! Sie wird immer dann mit Kugel reden und spielen, wenn er sich alleine fühlt, sagt sie und da ist die Geschichte auch schon zu Ende.

Eine unprätentiöse Geschichte, ohne aufdringliche Moral, aber zum Nachdenken, gestaltet in klaren, schlichten, liebevoll gemalten Bildern, eindringlich erzählt und gesprochen von einer freundlichen Frau, die immer wieder den direkten Kontakt mit den kleinen Zuschauern sucht und findet.

Marianne Castegren sitzt am Keyboard neben der Bühne, führt von der Seite die Figuren und wechselt die Kulissen, setzt dezent, aber wirkungsvoll Geräusche ein, schafft mit ein paar Akkorden die richtige Stimmung und begleitet sich bei ihren schlichten, aber nicht simplem Liedern. Wir erlebten ein Stück, das die Kinder faszinierte und – wie bei allen wirklich guten Kinderstücken – auch die Erwachsenen.
Horst Römer

 

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