Über und unter Wasser
Björn von Bahr über das 18. Preetzer Papiertheatertreffen /
Auszüge aus dockteatern 4/05
Beim 18. internationalen Papiertheatertreffen in Preetz dieses Jahr im September wurden 15 verschiedene Stücke gezeigt. Ich schaffte es, 12 davon zu sehen.
Die Spielzeiten variierten zwischen 10 und 60 Minuten … Die Stücke wurden auf deutsch oder englisch, das dänische in
H. C. Andersens Muttersprache aufgeführt.
– originellste Aufführung: Parsifal
– Unterwasserszenen kamen in drei Stücken vor: Auf dem Meeresgrund, Die kleine Meerjungfrau, Morgonkulan
– der Teufel tauchte in zwei Aufführungen auf: The Widow, Faust
– bester Tiefeneindruck: Bluebeard und Faust
– die meiste suggestive Musik hatten: Bluebeard, Die kleine Meerjungfrau, Faust, Dr. Mackuse
– künstlerischste Aufführung: Letzte Lieder
– dichteste Stimmung: Dr. Mackuse: Zu neuen Ufern
– am meisten Sex: Letzte Lieder, Tango for Tarzan, The Widow (Puppentheater ist also nicht nur für Kinder)
– am lebendigsten: Bluebeard, Trumpeter, Sound!, Wilhelm Tell
– bestes Kreisspiel: Auf dem Meeresgrund
– schönster Gesang: Morgonkulan, The Widow
– originellster Theaterbau: In 80 Tagen um die Welt, Parsifal
– am lustigsten: fast alle
– einfachste Technik: Wilhelm Tell
Die kleine Meerjungfrau – Svalegangens Dukketeater
Vor dem Hintergrund des H.C. Andersen-Jubiläums in diesem Jahr wurde … Die kleine Meerjungfrau aufgeführt. Es war wie ein Traum, sie langsam durch ihre grünblaue Welt schwimmen zu sehen, die aus mehreren, hintereinander angeordneten Kulissen und Versatzstücken bestand. Um den Eindruck ihrer Vorwärtsbewegungen zu verstärken, glitten die Kulissen um sie herum im selben Tempo zurück.
Auf dem Meeresgrund – Papiertheater Pollidor
Das Stück handelt von dem großen Dampfschiff Great Eastern, das um 1860 das erste Atlantikkabel verlegt hat. Das Kabel brach, und als Taucher versuchten, es zu reparieren, wurde einer von ihnen mit einer Axt ermordet – zumindest in diesem alten dänischen Modelltheaterstück. Vor der Vorstellung wurden wir von Dirk Reimers, dem Gründer und Veranstalter des Treffens, über das Dampfschiff und die Mythen darum informiert. Zeuge zu sein, wie er und seine Frau Barbara neben und hinter der Bühne agierten, war qualifizierte und lustige Schauspielerei zu erleben – und fast allein die Reise wert.
Morgonkulan – Papagena musik och teater
Zu den beliebtesten Spielen gehörte ein kleines Musical mit Text und Musik von Marianne Castegren. Sie saß neben ihrem Theater, spielte mit der rechten Hand auf einem kleinen Klavier und machte die Bühnenarbeit mit der anderen, während sie mit klarer Stimme auf deutsch sang. Das Stück handelte von einem unbändigen Kind, das nicht schlafen will, und war durch die einfachen Melodien und die Wiederholung bestimmter Wörter an Kleinkinder gerichtet. Die Figuren waren größer als die üblichen 12 Zentimeter, die Farben waren hell und klar. Das Theater war nach Allers Pegasus von 1941 gebaut, aber anstatt eines Vorhangs aus Pappe, der hochgezogen und dann hinter dem Bühnenbild versteckt wird, war der Vorhang aus Stoff und wurde gerollt. Deshalb konnte die Bühne/das Bühnenbild flacher sein. Das geflügelte Pferd hatte Mariannes Schwester Ingela Holten durch einen Fisch ersetzt…
Wilhelm Tell – Robert Poulter’s New Model Theatre
Der Engländer Robert Poulter aus Ramsgate muss immer Unmengen von expressionistischen Kulissen und Figuren führen. Er ist deshalb beinahe gezwungen, Dialoge vom Band zu verwenden. Um Material und Zeit zu sparen, wechselte er in den kurzen Pausen einfache, farbige Glühlampen, anstatt das – wie viele andere – über eine riesige Beleuchtungsanlage zu steuern. Er benutzte außerdem einfache Dinge wie zwei stehende Haushaltsrollen ganz hinten in den Kulissen. Sie waren mit einem langen Papierstreifen verbunden, der einen Hintergrund hatte, welcher zu unterschiedlichen Bühnen (-bildern) passte. Die Rollen wurden bei Szenenwechsel mehrfach gedreht.
Faust – Hamburger Altpapier
Für schnelle Szenenwechsel benutzte Olaf Christensen Pappscheiben, die dieselbe Oberfläche hatten wie der Bühnenboden. Nach alten Anleitungen hatte er Kerben hineingeschnitten, in die er vor jeder Vorstellung Kulissenhalter setzte. In denen wiederum wurden die Kulissen selbst festgeklemmt. Als Rauch von einem offenen Feuer unter einem Topf benutzte er kleine Lampen und chemischen Rauch, was er alles zusammen in einem Geschäft für Modelleisenbahnen gekauft hatte. Bei der ausgezeichneten Bühnentechnik und der Schwindel erregenden Tiefenwirkung in unter anderem Fausts Laboratorium war es schade, dass Olaf Dialoge vom Band benutzte!
Dr. Mackuse: Zu neuen Ufern – Papiertheater der urbanen KriminalitÄt
Aus einer schwarzen Schachtel mit einem Vorhang, der zur Seite gezogen wurde, traten das West- und das Ostberlin der direkten Nachkriegszeit hervor – teilweise begleitet von Neonlicht, Fred Astaire und fröhlicher Musik, teilweise mit Kampfmusik und Bildern von zerstörten Häusern. Und immer wieder taucht dieser Dr. Mackuse auf, dessen Existenz davon abhängt, den Teufel in die Gesellschaft einzuschleusen. Die Berliner Künstler Megi und Walter Koschwitz hatten ein stark surrealistisches Bühnenbild und bizarre Figuren konstruiert…
In 80 Tagen um die Welt – Bode’s Koffertheater
Jens und Pauline Schröder (Vater und Tochter) hatten ihr Theater aus einem Koffer gebaut, dessen aufgestellter Deckel das Bühnenbild bildete und einen Vorhang hatte. Der Vorhang war das Titelblatt der »Times« von ungefähr 1870. Durch zwei runde Löcher in der Zeitung sah man den hartnäckigen Detektiv Fix. Sehr gelungen! Der Vorhang ging zwischen den Akten nie zu, stattdessen wurde starkes Rotlicht verwendet. Das war wirklich raffiniert, konnte aber die Spannung in diesem Dauerbrenner von dänischem Theaterabenteuer kaum noch steigern.
Trumpeter, Sound! – Peter Baldwin’s Toy Theatre
Peter Baldwin sang hervorragend und in großem Stil zur Musik und zum Kampflärm, die vom Band kamen. Das Theater war dem legendären Astley’s Amphitheatre in London nachempfunden, das unter anderem für seine schönen Zirkusvorstellungen bekannt ist. Hier hatte Peter eine runde Manege vor dem Bühnenbild konstruiert. Es gab Pferde mit und ohne Reiter, und Kutschen fuhren ein und aus. Der Vorhang ging auf, und wir durften ein Modelltheater-Potpourri aus William Webb’s Modelltheaterdramen verfolgen, das von dem zu seiner Zeit aktuellen Krimkrieg (1853–1856) handelte. Es gab viel Lärm und Geschrei von allerhand lebhaften Figuren, und als Höhepunkt wurden »Rule Britannia« und »God Save the Queen« gespielt – genau, wie es im echten, alten Modelltheater vom Land sein soll, aus dem um 1811 das Papiertheater hervorgegangen ist.
Tango for Tarzan / The Widow – Little Blue Moon Theatre
Bevor die beiden Stücke … anfingen, baten die beiden Amerikaner Valerie und Michael Nelson um Verständnis dafür, dass bestimmte Teile des Stücks Nacktszenen enthalten. Danach folgten schöne Nacktszenen vor Tarzans Dschungelkulisse. Sinnlich und sexy, dabei, einfache, kleine Papierfiguren. Die sehnsüchtige und lockende Musik kam, ebenso wie die Dialoge, vom Band …
The Widow handelte von einer liebestollen Witwe, die an umherreisende Männer Zimmer vermietet. Valerie sang diese lustige Ballade mit heller und klarer Stimme, und Michael unterstützte sie mit einem Saiteninstrument aus den Appalachen, das »Dulcimer« heißt. Die ganze Zeit sah man die Papierfiguren in verschiedenen Sexstellungen. Sogar der Teufel war mit der unersättlichen Witwe zusammen, bis sie selbst ihm zuviel wurde …
Parsifal – Theatre l’Egregore
Der Schauspieler Eric Poirier aus Marseille hielt einen einzigen langen Monolog in einer Mischung aus deutsch und englisch. Durch ein Bühnenbild, das einem mittelalterlichen Altargemälde glich, und hinter einem weißen Schattenspiel-Papier in der Mitte des Bildes wimmelten alle Ritter, denen Parsifal auf seinem langen Weg nach Camelot … begegnete. Es gab viel Metallgeschepper und Kampfgeschrei, aber die Komik kühlte etwas ab, als der Schatten eines modernen Soldaten mit Gasmaske vorbeiflimmerte. Es wurden weder Kulissen noch Hintergrundbilder verwendet. Der eifrig sprechende und gestikulierende Eric zog einen Teil der handelnden Figuren aus einem dicken, alten Buch, das neben der Bühne lag, und brachte sie auf die Bühne…
Bluebeard – Paperplays Puppet Theatre
Eine gelungener Neudruck des Bühnenbilds des Modelltheaterkenners John Reddington von 1850. Als der Stoffvorhang aufgerollt wurde, durften wir ein orientalisches Ritterspiel über Bluebeard … verfolgen. Joe Gladwin gestikulierte, zog Grimassen und schrie wild, während Helen Porter auf Keyboard und der Ziehharmonika improvisierte…
Letzte Lieder – Grims Papieren Theater
Kein Theaterstück, sondern ein langsamer Fluss von Farben und teilweise abstrakten Formen. Eine Symphonie über Vergänglichkeit, Tod, Liebe, Sehnsucht und Schönheit. Eine Uhr tickte schwer, Wasser tropfte, Papier raschelte, Menschen murmelten, Gegenstände wurden hin- und hergerückt, und ab und zu hörte man schöne Opernarien und den aggressiven Lärm einer Autobahn. Der erste Akt war gelb wie der Mond in allegro, der zweite war grün in allegro ma non troppo, der dritte abendrot in andante, und der vierte Akt lief in blauweißem adagio …