Lebendige Oase
Zum 23. Preetzer Papiertheatertreffen
Von Uwe Warrach
Ein „Licht im Winter“: Tripp Trapp Troll / Teater Buffa, Schweden
Da sitzen an einem Winternachmittag drei Schwedinnen in ihrem Haus beim Kaffee, es ist längst dunkel draußen, und sie singen und spielen für ihre oder für Nachbarskinder mit Figuren und Bildern ein Märchen – das war meine Assoziation bei Tripp Trapp Troll. Zur Überbrückung der Wartezeit vor Beginn wird üblicherweise das Publikum zu Kanons eingeteilt.
Endlich öffnet sich die Bühne, und zwar weiter als andere und für relativ große Figurinen. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen wieder einmal Kinder. Ein anrührendes Abenteuer aus alter Zeit: Drei kleine Mädchen warten auf die Rückkehr ihres Vaters, eines Ritters, der ausgezogen ist, den bösen Riesen zur Strecke zu bringen, der alle Menschen, die ihn ansehen, in Stein verwandelt. Auch die Mädchen verkürzen sich die Wartezeit; sie stricken Strümpfe, und weil es so lange dauert, hängen die Strümpfe schon über den Bühnenrand, als die Kinder sich aufmachen, ihr Versprechen zu erfüllen und ihren Vater zu retten.
Auf der gefährlichen Reise begleitet sie der Gesang der drei Spielerinnen. Das ist schön und schlicht gestaltet, mit einem Schuss Ironie, besonders bei den martialischen männlichen Auftritten. Heiter und ohne jeden Perfektionsanspruch – eben wie an einem Winternachmittag in behaglichem Zuhause. Sehr großer Beifall.
Theater in der Unterwelt: PanteOn de Fiesta / Facto Teatro, Mexiko
Mit meinem deutschen Gemüt kam ich mir etwas schwerfällig vor bei diesem Fest für Augen und Ohren, ungefähr wie ein Fremder, der unversehens auf einem Markt oder Bazar im Süden aufwacht. Eine Dame, zeitweise an der Harfe, drei Herren, zeitweise an Gitarre und Geige, mit viel Gesang, Klängen und Rhythmen, die mich an die Inka- Gesangsgruppen in den Fußgängerzonen erinnerten. Mittendrin unterbrechen und beraten die Akteure einander, streiten und feilschen wohl auch, was ich aber nicht verstehen konnte, weil sie Spanisch sprechen. Schade um etliche Pointen.
Es ist aber eigentlich ein Musical, heiter, temperamentvoll, südamerikanisch. Jedoch: Auf dem Proszenium steht ein Kreuz, als wolle es respektloses Umspringen mit der Religion in seine Schranken weisen. Dabei ist diese sogar eine Stufe tiefer angesiedelt, nämlich in der Mythologie, die vor den Spaniern da war und die dem Plot zugrunde liegt.
Eine fürchterliche Geschichte im Grunde, die da abrollt: eine Art mexikanisches Fegefeuer, der Gang eines Toten durch die mystische Unterwelt des alten Mexiko. Die berüchtigte Schädelpyramide der Menschenopfer aus vorkolonialistischer Zeit fehlt ebenso wenig wie das Fürstentum der Finsternis.
Die 40 Minuten vergehen im Nu, langer, starker Applaus. Kein Wunder, dass es sehr mühevoll war, diese Gruppe für Preetz zu buchen.
SchwÜle Fantasien: Roman Reveries / Little Blue Moon Theatre, USA
Dieses Unternehmen aus Kalifornien hat immer Erotik im Gepäck. So war das Gewackel der Bühne keine Panne, sondern achtersinnige Berechnung. Ein leicht missgestimmtes Touri-Pärchen der Überflussgesellschaft kommt nach Rom und verliert sich in Fantasien altrömischer Dekadenz (die unsereinem ja neuerdings auch nachgesagt wird). SIE badet nackt im See einer Art Tivoli-Landschaft, und wir lachen noch darüber, dass ihr Kleiderständer, ein Hirschgeweih, mit seinem Träger und ihrer Wäsche davon marschiert.
Da wechselt die Szenerie zu den Blutorgien im Kolosseum, denen wir durch ein Guckloch zusehen. Ab und an wird der Leichnam eines Gladiators vorbei getragen, manchmal auch ein toter Löwe. Erleichtert finden sich Protagonisten und Publikum in der Gegenwart wieder. Alles ohne Worte und mit schöner Musik, darin Puccini live gesungen von Valerie Nelson – ein extra Bravo!
Er ist der Kleinste, jedoch: Ich bin der Stärkste im ganzen Land / Hellriegels Junior, Kiel
Auf seinem T-Shirt steht es wie ein vorsorglicher Protest gegen entzückte Senior/innnen: „Ich bin nicht süß.“ Denn er ist deutlich jünger als sein Publikum, der jüngste Spieler der Saison, der 8jährige Willem Klemmer, der, begleitet von seiner Großmutter Gerlinde Holland, sein Debüt gab.
Der Enkel des unvergessenen Papiertheaterspielers (und Rundfunksprechers) Heinz Holland (? 2001) wurde geboren, als sein Großvater starb und eifert ihm nach. Er bedient geübt, ruhig und besonnen die kleine, selbstgebaute Bühne und spricht die Rollen der verschiedenen Tiere, vor denen sich der Wolf mit seiner Stärke brüstet, klar und mit passenden Stimmen und Betonungen. Souverän, aber bescheiden, freut er sich über den starken, ungeschmeichelten Beifall. Ich verspreche, ihn nicht wieder „süß“ zu nennen.
ZaubermÄrchen, computergesteuert: Der Bauer als MillionÄr / Wiener Papiertheater, Österreich
Beim Wiener Papiertheater ist wie immer alles super-perfekt: klassische Kulissen, Effekte der großen Oper mit Nebel und Feuer, der reine Klang der Musik, die exakten Bewegungen der Figurinen, die Dramaturgie. Sogar der ungeplante, um die Mittagszeit durch ein Loch in der Dachfensterverkleidung einbrechende Sonnenstrahl, von der erschrockenen Direktion als Panne bedauert, gibt zusätzlichen Glanz von oben.
Sehr starker Beifall; auch später, zwischen anderen Aufführungen, hörte ich viel Lob für das computergesteuerte romantische Zaubermärchen von Ferdinand Raimund. Bei so viel Lob wird man auch etwas granteln dürfen: Für 70 Minuten ohne Pause braucht es einen Spannungsbogen, den das Papiertheater kaum tragen kann; auch deshalb wohl halten sich fast alle Bühnen an die 45-Minuten-Vorgabe.
Auch ein „Prager Pitaval“: Valsha, the Slave Queen / Robert Poulter’s New Model Theatre, Grossbritannien
Robert Poulter ist für mich der unbestrittene und unerreichte Virtuose, der „Titan des Toy Theatre“, wie sie ihn auf den Britischen Inseln nennen. Seine Kulissen und Figurinen wie immer selbst gemacht, passen zu- und aufeinander – ach was, sie rasen oder schleichen wie lebendige Gestalten durch ihre scharf gezeichneten Welten. Fast geht dabei unter, dass Poulter ein ausgezeichnetes Gespür für passende Musikpassagen hat, die er sonst wo her holt.
Zu der Geschichte wird gleich erklärt, was man wissen müsse: dass im alten Prag die beliebteste Form der Hinrichtung das Werfen der Delinquenten von Türmen war, wohl eine Vorstufe des Fenstersturzes. Alle geraubten Frauen seien Sklavinnen auf Lebenszeit gewesen, es sei denn, jemand fand sich, sie zu ehelichen. Die Königin ist tot, König Premislaus will wieder heiraten – eine Sklavin. Nun geht es los mit Intrigen, Selbstmord und Totschlag, und auf der Bühne tobt das (sofern verschonte) Leben, ebenso über der Bühne, von wo Robert Poulter Kulissenteile und Figuren schiebt, wirft und stapelt.
Schweißüberströmt verbeugt er sich und lädt zum Blick hinter die Bühne ein. Jedes Mal glaube ich es nicht, dass von diesem kleinen Kartonhaus mit simplen Lampen und Gerät so viel Illusion ausgehen kann.
„Spoons, spoons, spoons!“: The Miller and his men / Paperplays Puppet Theatre, Grossbritannien
An Virtuosität auf der Bühne steht Joe Gladwin seinem Landsmann Robert Poulter nicht nach. Aber ihm ist sie noch zu eng, er tanzt, springt und singt um sie herum und mit den Figurinen um die Wette, hat zumindest so viel Spaß an seinem Spiel wie sein Publikum.
Doch auch historische Originalität ist ihm wichtig: Figurinen und Kulissen sind nach der Aufführung im Haymarket Theatre von 1861 gestaltet. Das wohl berühmteste britische Papiertheaterwerk handelt von Liebe, Räubern, Entführung, offenem Kampf aufs Schwert (eine Zuschauerin erhält den Auftrag, für die Geräuschkulisse mit zwei Esslöffeln zu klappern, nach der Regieanweisung: „Spoons, spoons, spoons!“) und am Ende explodiert eine Windmühle, heikelster Moment der auf Feuer und Wasser allergisch reagierenden Bühnen.
Auf der Strecke durch die beiden Jahrhunderte seiner Existenz hat dieses Stück schon einige Zimmerbrände hinterlassen. Deshalb freut man sich auch immer besonders auf das Finale. Joe Gladwin verzichtet auf jegliche Kokelei, begnügt sich indessen nicht mit einer auf Pappe gemalten Sprengung, sondern blendet uns unter passendem Lärm mit einer Taschenlampe, bevor der Vorhang fällt.
Überhaupt kein MÄrchen: Das Kaisers neue … / Papiertheater Pollidor, Preetz
… Kleider, denkt man, und das ist auch richtig, aber der Kaiser ist diesmal ein gelangweilter, wahrscheinlich schwuler Modezar, der im Wellnessbad weilt und alle Kleidermodelle, die man ihm vorführt, grääääässlich findet.
Bis zwei Weber auftauchen, die eine Kreation versprechen, die alles bisher da Gewesene in den Schatten stellt, oder besser: ins Licht, denn sie sei nur sichtbar für absolut ehrliche, gute Menschen. Also für niemand anderen als ihn selbst, denkt jeder nun und glaubt einen Hauch von Stoff zu sehen, zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, in Wahrheit: nichts. Die Weber umgarnen den Modeschöpfer mit der Phrasendrescherei modernen Hausierertums aus Wirtschaft und Politik.
Auch wenn man schon ahnt, wie es ausgeht und wer am Ende bloß gestellt ist – Andersens Märchen führt uns geradewegs in die Wirklichkeit von 2010. Barbara und Dirk Reimers verstehen es, die verschiedenen Rollen – wie immer live – deutlich unterscheidbar zu sprechen und sparen – auch wie immer – nicht an Ironie.
ZÄrtlich und schmerzend: Die Geschichte einer Mutter / Amager-Scenen, DÄnemark
Dies hat mich nun so ergriffen, wie es dem Papiertheater selten gelingt. Aber hier spürt man sofort die Liebe zum Metier und zu der Geschichte: Eine Mutter verliert ihr Kind, sucht es überall, nicht ahnend, dass der alte Mann, der es am Krankenbett besuchte und den sie sogar bewirten wollte, der Tod war.
Es endet, wie so oft bei Hans Christian Andersen, durchaus nicht happy, eigentlich sogar fast ohne Trost. Die Bilder des Bauernhauses, des Winterwaldes und des Gartens der Menschenherzen erinnern an Fotos aus dem 19. Jahrhundert und haben eine Tiefe, die man sich bei der anschließenden Besichtigung der engen Bühne gar nicht erklären kann.
Winnie Deichmann Eberts bescheidenes Auftreten und ihr dänischer Akzent des live gesprochenen deutschen Textes nehmen ein wenig von der bitteren Härte der Geschichte.
Nur 20 Minuten, aber eine starke Wirkung, die mich in den Abend begleitete.
Beweglich und bewegend: Reise zum Mittelpunkt der Perspektive / Muthesius Kunsthochschule, Kiel
Große Bühne, zahlreiche Mitwirkende, viel Technik, mehr Multimedia als herkömmliches Papiertheater – aber was ist beim heutigen Papiertheater schon herkömmlich? Ein Kind sucht seine Perspektive. In einer Welt, die scheinbar weiß, was sie will, vor allem: was alle zu wollen haben.
Manipulation statt Wertevermittlung, e-Book statt Schmökern; es ist schwer, sich zurechtzufinden, nicht nur für einen kleinen Jungen. Zu den Computer gesteuerten Bildern und Tönen sprechen die Spieler größtenteils live, zum Teil akustisch verfremdet. Ein Semesterprojekt ohne Längen und akademischen Anstrich.